Monika Rech-Heider, ihr Mann Andi und ihre drei Kinder blicken auf eine besondere Familienzeit zurück: Ein Jahr lang fuhren sie mit einem Bulli durch Europa. Keine Schule für die Kinder, grenzenlose Reise-Freiheit, aber mit sehr begrenztem Wohnraum. Ihre Erfahrungen hat Journalistin und Geografin Monika Rech-Heider in einem Buch und Reiseblog festgehalten. Jetzt in Corona-Zeiten profitiert die Kölner Familie von dem Abenteuer und seinen Herausforderungen.

Für Paul (14), Fannie (13) und Liv (7) geht wie für viele Schulkinder in Deutschland nach den Corona-Maßnahmen schrittweise die Schule wieder los. Rund acht Wochen waren sie zu Hause, zusammen mit ihren Eltern, die im Home-Office arbeiteten. Viele Familien kamen dabei schnell an ihre Grenzen: Lernpläne durchackern, Job und Familie gleichzeitig unter einen Hut bringen – eine stressige Situation. „Wie sollen die Kinder das thematisch aufholen?“ Sorgen wie diese hört Monika Rech-Heider häufig in letzter Zeit. Vor ein paar Jahren hätte sie eingestimmt in den Chor der Gestressten. „Früher habe ich auch gemeckert, wenn die Kinder einmal mit einer Drei nach Hause gekommen sind“, gibt die 50-Jährige zu. Inzwischen läuft es bei Familie Rech-Heider in ihrem Haus in Neu-Ehrenfeld wesentlich entspannter ab. Die Kinder machen sich selbstständig aus ihren Wochenplänen kleine Lernhäppchen und teilen sich ihre Zeit ein. Dass das so reibungslos funktioniert, haben sie einem ganz eigenen Lernprozess zu verdanken. Sowohl die Eltern Monika und Andi wie auch ihre drei Sprösslinge haben sich dieses Vertrauen erarbeitet; auf ihrer einjährigen Reise mit dem Bulli durch Europa.

Familie Rech-Heider im Westerwald in ihrem Bulli (v.l. Andi und Hund Charlie, Paul, Monika, Liv und Fannie)
Familie Rech-Heider im Westerwald in ihrem Bulli (v.l. Andi und Hund Charlie, Paul, Monika, Liv und Fannie), Foto: Rech-Heider

Einfach mal ausbrechen aus dem hektischen Alltag – ein Wunsch, der auch Familie Rech-Heider immer mal wieder im Kopf herumspukte, während sie gestresst ihre Kinder zu Schule, Kindergarten, Sportvereinen und Musikunterricht brachten, unentwegt arbeiteten und dabei zwar miteinander, aber auch oft genug aneinander vorbei lebten. „Die Kinder wurden quasi auf dem Schreibtisch groß“, sagt die Journalistin. Doch obwohl die innere Stimme immer lauter wurde, etwas an der Situation zu ändern, blieb es erst einmal bei einem Tagtraum.

Doch dann kam der Sommer 2015: Flüchtlinge strömten nach Europa, Bilder von überfüllten Schlauchbooten, Auffanglagern, der Willkommenskultur und PEGIDA-Demos waren allgegenwärtig in den Nachrichten. Im Herbst dominierte der Terror in Frankreich die Titelseiten. Monika und Andi Rech-Heider erschütterte die Spaltung der Gesellschaft, aber auch ihre Kinder spüren, dass sich etwas verändert. Allen voran der zehnjährige Paul, der als Ältester plötzlich über Themen wie Tod, Flucht und Terror nachdenkt.

„Unsere Kinder brauchten positive Erlebnisse“, erzählt Monika Rech-Heider. Fernsehen und Radio abzustellen wäre ein erster Schritt gewesen, aber reichte nicht aus. So sei nach und nach aus der inneren Stimme ein Tornado entstanden, der den Widerstand einriss und forderte, dem „ganzen Irrsinn“ etwas entgegen zu setzen. „Wir wollten den Kindern zeigen, dass das Leben gut ist. Dass Europa gut ist. Dass wir hier zu Hause sind und dass uns nichts passiert.“ Doch ein Jahr lang durch Europa zu touren, ist vor allem eine organisatorische Herausforderung. Das Haus zu vermieten war das geringste Problem, die größte Hürde stellte die Schulplicht dar.

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Lernen im Bulli. Foto: Rech-Heider

Selber unterrichten, das so genannte „Homeschooling“ war vor der Corona-Pandemie kaum vorstellbar, geschweige denn dass freies Lernen (Unschooling) oder das „von der Welt lernen“ (Worldschooling) vom Gesetzgeber gefördert würde. Grundsätzlich gilt immer noch, dass Schüler auf Zeit freigestellt werden können. Dies liege dann im Ermessensspielraum von Lehrern, Schulen und Bezirksregierung und werde häufig unterschiedlich gehandhabt, berichtet Rech-Heider schon in ihrem Buch. In ihrem Fall hätten die vielen „Neins“ ihren Ehrgeiz noch angefacht eine Lösung zu finden. Eine Abmeldung des Wohnsitzes kam für sie nur als Notlösung in Frage, da damit neue Probleme mit der Vermietung oder der Zulassung des Reisegefährts sowie der Kranken- und Sozialversicherung geschaffen würden. Seit der Kultusministerkonferenz 2003 gibt es noch eine Regelung für Kinder beruflich reisender Eltern. Die Kinder werden an einer Stamm- oder Ersatzschule angemeldet, die Lehrpläne vorgibt und per Lerntagebuch die Fortschritte überprüft und dokumentiert. Da keine Berufsgruppe ausgeschlossen werden darf, konnten die Rech-Heiders ihr journalistisches Projekt des Reiseblogs und eventuell weitere spontane Aufträge als Legitimation nutzen.

Die Reiserouten. 1. Etappe grün: Von Ostdeutschalnd nach Griechenland und zurück,  2. Etappe lila: Italien, 3. Etappe orange: Skandinavien nach Polen und zurück. Grafik: C.Siefer
Die Reiserouten. 1. Etappe grün: Von Ostdeutschalnd nach Griechenland und zurück, 2. Etappe lila: Italien, 3. Etappe orange: Skandinavien nach Polen und zurück. Grafik: C.Siefer

Die erste Lern-Lektion des Lebens für Familie Rech-Heider beginnt bereits zwei Wochen vor dem Start in ihr Abenteuer. Das gekaufte Wohnmobil „Niesmann Bischoff Clou 670“, Baujahr 1986, hat einen Motorschaden und steht in der Werkstatt. Das Haus ist jedoch bereits vermietet. Samt dem Golden-Retriever Charlie geht es im August 2017 erst einmal in den Westerwald nach Limbach. Dort hatte die fünfköpfige Familie einen alten Bauernhof mit Freunden gekauft und kann dort auf Nachricht aus der Werkstatt warten. Sechs Wochen vergehen und die Mängelliste wird immer länger. Ihr „Herr Niesmann“ entpuppt sich als Totalausfall und das ländliche Limbach wird zum ungewollten Bullerbü auf unbestimmte Zeit.

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Wohnmobil „Niesmann Bischoff Clou 670“, Baujahr 1986, hat einen Motorschaden und muss in die Werkstatt. Foto: Rech-Heider

„Während die Kinder also den Schalter von Alltag auf Abenteuer ohne auch nur eine einzige Zwischenstufe umschalteten, erlebten Andi und ich das erste Waterloo unserer Auszeit. Irgendwie war es ja abzusehen, dass die Vollbremsung, die wir eingeleitet hatten, nicht ohne Blessuren bleiben würde. Arbeiten bis zum Abwinken, Haus leerräumen, das alte Leben abwickeln – und plötzlich: Stillstand in einem Ort, an dem wir nicht sein wollten“, schreibt Rech-Heider in ihrem Buch.

Bevor das ganze Projekt scheitert, trennt sich die Familie von ihrer Idealvorstellung und damit von einer Menge Reisekomfort und Gepäck. Kurzerhand bauen sie den dreißig Jahre alten VW T3 „Bulli“ zum Mini-Wohnmobil um. „Am Anfang haben wir eineinhalb Stunden gebraucht, um aus der Sitzbank das Bett umzubauen, später war das eine Sache von 15 Minuten“, berichtet die Mutter. Flexibel zu sein war ab diesem Zeitpunkt die Devise.

Der umgebaute T3 Bulli ist bereit für die große Reise. Foto: Rech-Heider
Der umgebaute T3 Bulli ist bereit für die große Reise. Foto: Rech-Heider

Für das geplante Skandinavien war es im Oktober inzwischen zu kalt, vor allem mit dem Bulli. Daher geht es auf nach Osten, gemütlich über Landstraßen statt Autobahn mit 1,5 Metern Schulmaterial im Gepäckfach. Doch der eigentliche Unterricht beginnt draußen: An der ehemaligen innerdeutschen Grenze im hessischen Wildeck lernen die Kids wie es gewesen ist, als Deutschland aber auch Städte, Gemeinden und Familien durch eine Mauer gespalten und getrennt waren. „Wir philosophierten das erste Mal auf dieser Reise über Europa, über die grenzenlose Freiheit auf diesem Kontinent, die keineswegs selbstverständlich ist.“ Es folgten Zwischenstopps an der Wartburg, am ehemaligen Konzentrationslager Buchenwald und in Dresden, wo sie sowohl von Fremdenhass als auch großer Gastfreundschaft erfuhren. Zum ersten Mal übernachten sie bei einem Ehepaar auf einem Hof, was ihnen Bekannte vermittelt hatten. Die Scheu bei Wildfremden zu klingeln überwinden sie und werden mit Herzlichkeit belohnt. Es sollte nicht das letzte Mal auf ihrer Reise sein. Die Geschichten ihrer Reisebekanntschaften, wie die von Eva und Ralph in Dresden, die zweimal durch das Elbe-Hochwasser Existenzangst und gleichzeitig große Solidarität erfahren hatten, lassen sie stets dankbar zurück.

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Leben im Bulli, Liv, Fannie, Charlie und Paul haben sich schnell daran gewöhnt. Foto: Rech-Heider

Das ändert sich auch nicht auf den nächsten Reiseetappen, wie in der Ungarischen Puszta, wo sie über Social Media auf eine Farm einer Schweizer Auswandererfamilie stoßen. Drei Wochen leben sie auf der „Farm der Freiheit“, helfen bei den Hofarbeiten und beobachten wie die Kinder neue Talente und Interessen entdecken. Der Lernplan  ist zu diesem Zeitpunkt weit in Ferne gerückt. Auf dem inoffiziellen Stundenplan steht: Gartenkultur, Permakultur, Tierpflege und Englisch, das mit den „Work-and-Travel“- Besuchern auf der Farm gesprochen wird. Die Schweizer Kinder werden nie eine Schule besuchen, erfahren die Kölner von ihren Gastgebern.

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Bei Dominik und Esther und Sohn Elia auf der Farm der Freiheit in Ungarn, Foto: Rech-Heider

Schließlich geht es von Montenegro nach Albanien, wo sie erneut Grenzzäunen, Vorurteilen und politischen Missständen und den Menschen begegnen, die die Zustände ihrer Heimat positiv beeinflussen wollen.
In Griechenland lernen sie auch eine Familie aus Südtirol kennen, die ebenfalls ein Jahr Auszeit mit ihren Kindern genommen hat. In Südtirol gibt es bezüglich Schulpflicht keine Probleme. So stehen auf dem Campingplatz das große Wohnmobil der Familie Drescher neben dem kleinen Bulli der Rech-Heiders. Es ist der Beginn einer andauernden Freundschaft.

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Zwei Familien, ein Traum: Ein Jahr Auszeit vom Alltagsstress. Foto: Rech-Heider

Weihnachten und Silvester verbringen sie jedoch dann doch geschützt in einem Ferienhaus auf der griechischen Insel Kythera und träumen von ein bisschen mehr Komfort in ihrem Reisegefährt. Früher als erwartet, sitzen die Fünf mit Hund in ihrem Bulli Richtung Köln. Der Großvater ist erkrankt.

Im März 2018 soll es weitergehen. Sogar das Wohnmobil „Herr Niesmann“ kommt aus der Werkstatt, wird endlich auch innen reisetauglich umgebaut, schafft es aber wieder nur bis zum Leverkusener-Kreuz. Erneut durchkreuzt der Motorschaden die Reisepläne. Wieder einmal lernen die Rech-Heiders loszulassen und umzudenken. Es geht zu einem Freilerner-Dorf nach Badolato in Kalibrien, auf der Suche nach Gleichgesinnten. Diesmal bleiben die Schulbücher in Köln. Über Sizilien, Rom und Pompeji mit einer Menge Kulturgeschichte für die Kids geht es nach Meran zu den neuen Freunden der Familie Drescher.

Geschichte live: Pompeji. Foto: Rech-Heider
Geschichte live: Pompeji. Foto: Rech-Heider

Auf dem Reiseblog der Familie gibt es dagegen immer weniger Berichte und Monika fasst einen Entschluss: „Ich wollte mit der Familie diese Zeit aufsaugen und genießen und weniger über Social Media auf die Reaktion der anderen warten.“ Der Laptop und das Smartphone verschwinden zunehmend aus dem Reisealltag. Ein Lerneffekt auch für die Eltern. Wo ihre Reise eigentlich beginnen sollte, da endet sie: Die letzte Etappe in Skandinavien wird so entspannt wie keine zuvor. „Ihr lächelt viel mehr als früher“, fällt es sogar dem Nesthäkchen Liv auf. Dann geht es über Polen zurück nach Köln, denn für die damals sechsjährige Liv  geht es am 29. August 2018 zum ersten Mal in die Schule.

Liv erster Schultag mit Großmutter, zurück in Köln. Foto: Rech-Heider
Livs erster Schultag mit Großmutter, zurück in Köln. Foto: Rech-Heider

An alte Freundschaften anknüpfen, der Schulalltag und das Gefühl nicht mehr hundertprozentig in die hektische Alltagswelt zu passen – die ersten Wochen und Monate waren für alle eine große Umstellung. Doch Eines haben die Rech-Heiders auf ihrer Reise gelernt: Veränderung ist möglich. Und so vertrauen sie auf die Anpassungsfähigkeit ihrer Kinder und die Kraft der Familie für die sich nun auch die Eltern bewusst Zeit nehmen. Für die Schule hat dies erstaunlich gut funktioniert, keines der Kinder musste ein Schuljahr wiederholen. Die Wissbegierde und Neugier haben sie von der Reise mitgebracht und daran ändert sich auch in der Corona-Pandemie nichts.

Monika Rech-Heider genießt die Zeit, die ihr erneut mit der Familie geschenkt wurde. Veränderung, Vertrauen und das Gefühl von Freiheit beginne im Kopf. „Die Freiheit des Lernens ist die Freiheit des Lebens. Ohne Lernen ist das Leben fad. Für Kinder, für Erwachsene“, resümiert die 50-Jährige.

Eine gekürzte Fassung dieses Artikels ist erschienen im General-Anzeiger Bonn am 06.06.2020.

Das Buch „Auf Nach Neuland“ von Monika Rech-Heider ist 2020 im Benevento Verlag erschienen, 320 Seiten.
ISBN: 978-3-7109-0086-0 | 16 Euro.

Weitere Reisegeschichten und Fotos auf: http://www.aufnachneuland.eu

 

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